Crowd Out
Eine Komposition für 1000 Stimmen von David Lang
Musikalische Leitung Simon HalseyInszenierung Jasmina Hadžiahmetović
Dramaturgie Bettina Auer
14. Juni 2014, Kulturforum Berlin
Weitere Informationen https://www.digitalconcerthall.com/de/film/228
Fotos: © Monika Rittershaus
http://www.monikarittershaus.de
Wie fühlst du dich inmitten einer großen Menschenmenge? Als Individuum in einer Masse? Mitten im Gedränge im Fußballstadion zum Beispiel, auf einer großen Demonstration, im Konzert oder auf einer Wahlkampfveranstaltung? Dass Menschenmassen als Gesamtes ihr Eigenleben haben, hat schon der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti erforscht, während jeder Einzelne in dieser Situation ganz unterschiedliche Gefühle erlebt. Der amerikanische Komponist David Lang hat im Internet zu diesen Fragen recherchiert, um daraus den Text für sein Chorwerk Crowd Out zu entwickeln. Die individuellen Statements reichen von panischer Angst bis zur euphorischen Auflösung in der Masse, von totaler Verzweiflung oder Wutattacken bis zum unbedingten Wunsch, endlich einmal im Mittelpunkt zu stehen. Und immer wieder geht es um Einsamkeit inmitten von Menschen: „Ich fühle mich total allein“, lautet der zentrale Satz. Das Grundgefühl, in dieser Welt allein und verloren zu sein, scheint wiederum Menschen an diversen Orten bzw. in unterschiedlichsten Lebenssituationen zu verbinden. Obwohl wir doch im Internet zu einer einzigen immensen Menschenmenge zusammengewachsen sind, die erstmals unendlich viele Informationen untereinander austauschen und rund um den Globus problemlos kommunizieren kann, obwohl wir also scheinbar intensiver als je zuvor miteinander verbunden sind, fühlen sich viele allein.
Die Berliner Erstaufführung von David Langs Crowd Out unter der Musikalischen Leitung von Simon Halsey und in der Inszenierung von Jasmina Hadziahmetovic wagt ein aufregendes Experiment: Musiktheater im öffentlichen Raum! 1000 Sängerinnen und Sänger aus 21 Berliner Chören und Vereinen sowie 5 offenen Gruppen, die sich eigens für dieses Projekt zusammengefunden haben, sprechen, singen und agieren mitten in der Stadt, auf der Piazzetta des Kulturforums, zwischen Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett und Philharmonie. Und mehr noch: Sie sind mitten unter uns. Künstler und Publikum werden – nicht wie sonst säuberlich getrennt – zu einer einzigen Menschenmasse verschmelzen. Beide Teilnehmer-Seiten einer Aufführung, Darstellende und Rezipienten, sind auf der Piazzetta vereint, berühren sich, kommen in eine unvorhersehbare Kommunikation, sodass sich im Erleben von Crowd Out die Grenzen zwischen den Menschen auflösen können.
In Langs Musiktheater-Werk äußert sich immer nur das Individuum. Es gibt keine Gemeinsamkeit, keine Gemeinschaft, kein emphatisches „Wir“, selbst wenn viele Menschen gleichzeitig dasselbe Gefühl formulieren. Denn in unserer westlichen Welt, die das Individuelle in höchstem Maße feiert, steht nun einmal das „Ich, Ego oder I“ an erster Stelle. Aus einer anfangs diffusen, sich immer stärker formierenden Menschenmenge wird sich im Laufe unserer Aufführung zunehmend der Einzelne herausschälen, denn das Grundgefühl aller bleibt, allein zu sein in der Masse.
Lassen Sie sich bewegen, werden Sie Teil dieser Menge aus unterschiedlichsten Individuen, um der allgemeinen Vereinzelung vielleicht doch etwas Entgegenzusetzen: ein zartes, optimistisches „Wir“.
Text: © Bettina Auer