Fürchtet Euch nicht!
Ein lichter Abend in dunkler Zeit
Musikalische Leitung Nicolas FinkInszenierung Jasmina Hadžiahmetović
Dramaturgie Bettina Auer
Rundfunkchor Berlin
Schauspieler Jürgen Haug, Susi Wirth
24. Dezember 2015, Berliner Dom
https://www.rundfunkchor-berlin.de/konzerte/das-berliner-weihnachtskonzert/
Fotos: © Lovis Dengler
„Fürchtet Euch nicht!“
Als wir vor anderthalb Jahren begannen, uns über eine szenische Form des Weihnachtskonzertes des Berliner Rundfunkchores Gedanken zu machen, ahnten wir nicht, dass uns die politischen Ereignisse in diesem Maße überrollen würden. Ausgehend von der christlichen Weihnachtsgeschichte im Lukas-Evangelium, das berichtet, wie Joseph und die hochschwangere Maria keinen Platz in einer Herberge finden und schließlich im Stall bei den Tieren unterkommen müssen, wollten wir von Menschen erzählen, die heute auf der Flucht sind und bei uns Schutz suchen. Dass die aus Krieg, Terror und Not flüchtenden Menschen nicht nur unsere Hilfe benötigen, sondern umgekehrt mit ihrer Kultur, ihren Festen und Geschichten auch uns bereichern, war Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu diesem inszenierten Konzert. Dass das vermeintlich „Fremde“ viel mehr Verbindungen und Bezüge zu unserer Kultur aufweist, als auf den ersten Blick erkennbar ist, offenbart sich, wenn wir mehr über „die Neuen“ in unserer Gesellschaft erfahren.
Auch deshalb stellen wir neben Texten von Dichtern, die aus dem Orient kommen oder abstammen, ein persisches Fest an diesem Abend vor, das bis heute gefeiert wird: die persische Yalda-Nacht, in welcher die Familien in der längsten Nacht des Jahres zelebrieren, dass das Licht neu geboren wird. Ein Fest des Lichts zum Zeichen der Hoffnung in dunkler Zeit – genau wie das christliche Weihnachten.
Die Tradition der Yalda-Nacht ist eng verknüpft mit einem der fünf Dichter, die an diesem Abend zu Wort kommen sollen: dem großen persischen Lyriker Hafis (um 1326 - um 1389/90), dessen Diwan Goethe zu seinem Gedichtzyklus West-östlicher Diwan (1819) inspirierte. Der Dichtername Hafis, eigentlich Muhammad Schams ad-Din, bezeugt, dass „Hafis“, „der (den Koran im Gedächtnis) Bewahrende“, den Koran in- und auswendig kannte. Ein Ritual in der Yalda-Nacht ist es zu orakeln. Dabei wird eine Frage gestellt, Hafis‘ Diwan an irgendeiner Stelle aufgeschlagen und die Antwort aus seinen Versen gelesen.
Ob der persische Sufi-Mystiker und bedeutende Dichter des Mittelalters (Dschalal ad-Din Muhammad) Rumi (1207-1273) im Gebiet des heutigen Afghanistan oder Tadschikistan geboren wurde, ist ungewiss, klar ist nur sein Sterbeort, Konya in der heutigen Türkei, wo er mit einem Mausoleum geehrt wurde. In seiner Lehre sah er die Liebe als die Hauptkraft des Universums an, das er wiederum als ein harmonisches Ganzes betrachtete. Jeder Teil dessen steht mit allen anderen in einer Liebes-Beziehung, die wiederum einzig und allein auf Gott gerichtet ist und nur durch seine Liebe überhaupt Bestand haben kann.
Die anderen drei Schriftsteller dieses Abends sind Zeugen unserer Zeit: Der Aufschrei „Lasst mein Volk leben“ des Syrers Monzer Masri (*1949, Latakia), der nach wie vor in seiner Heimatstadt lebt, spricht für sich. Masri, Poet und Maler, widmet seine Gedichte, die in ihrem Gestus an erzählende Prosa erinnern, der konkret gegenständlichen Welt, dem Detail, dem Alltäglichen. SAID sowie Navid Kermani leben in Deutschland. SAID (*1947) floh vor 40 Jahren aus dem Iran und lebt seitdem im Exil, seine Grundthemen sind vor allem Liebe und Exil. Mehrfach wurde er für sein literarisches Werk, aber auch für sein Engagement für politisch Verfolgte ausgezeichnet. Über seine Psalmen, von denen wir einige verwenden, schrieb ‚Der Spiegel‘: „Spiritualität unabhängig von Konfession und Konventionen.“ Navid Kermani (*1967), als Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren, ist preisgekrönter Autor, habilitierter Orientalist, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und seit Jahren eine wichtige öffentliche Stimme in Deutschland. Seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in diesem Jahr sowie seine Rede im Deutschen Bundestag 2014 sind legendär. Kermani erzählt auch darüber, wie selbstverständlich sich zwei Identitäten und Traditionen verbinden lassen, welcher Reichtum daraus erwächst, und ruft auf seine Weise immer wieder dazu auf: „Fürchtet Euch nicht!“, wie dieses spezielle Weihnachtskonzert betitelt ist.
Text: © Bettina Auer